Haben Sie schon Ihr persönliches Benutzerhandbuch?

Meine Arbeit als Unternehmensberaterin mit dem Schwerpunkt Design Thinking besteht im Grunde darin, das Verhalten von Menschen zu verstehen, um so die dahinter liegenden Bedürfnisse in (innovative) Lösungen zu verwandeln. Sich selbst und andere zu verstehen, steht daher im Mittelpunkt meiner Arbeit. Die Maxime „Erkenne dich selbst“ stand bereits auf dem Tempel in Delphi. Generell wurde diese Aufforderung im alten Griechenland von sämtlichen Weisen wie Platon, Aristoteles oder Sokrates verbreitet. Dabei ist es vollkommen egal, wer zuerst diesen Rat ausgesprochen hat. Wichtig ist, dass er auch heute nichts an Aktualität verloren hat.

Selbstwahrnehmung ist im Grunde das, was den modernen Menschen von früheren Menschheitsformen unterscheidet. Nur sind wir heute zu oft damit beschäftigt, kurz innezuhalten und uns selbst kennenzulernen. Unter der Flut der Textnachrichten, E-Mails und Tweets verlieren wir die Sicht darauf, wozu all dieses Chaos überhaupt gut sein soll: Für niemand geringeren als uns selbst. Wie finden Sie aber heraus, wer Sie sind?

Beginnen wir mit einer guten Nachricht: Eine Studie besagt, dass die Person, die Sie am besten in Ihrer emotionalen Stabilität bewerten kann, niemand geringerer als Sie selbst sind. Die schlechte Nachricht: Das war es auch schon in Sachen Selbsterkenntnis, denn der Backstagezugang zu Ihren Gedanken hilft Ihnen leider nicht viel weiter. Wenn es beispielsweise darum geht, vorherzusagen, wie Sie bei einem Kreativitäts- oder Intelligenztest abschneiden, werden Sie vermutlich keine hohe Trefferquote erzielen. Im Gegenteil: Dieser Studie nach sind es sogar Fremde, die die Probanden nur 8 Minuten vor dem Test kurz kennengelernt haben, die genauere Vorhersagen über die Durchsetzungsfähigkeit bei einer Diskussion, die im Anschluss des Kennenlernens folgte, treffen können. Und wenn es darum geht, Ihr Verhalten am besten einzuschätzen, sind es Ihre direkten Kollegen, die die höchste Trefferquote erzielen.

Dass Menschen sich selbst am besten einschätzen, wenn es um Eigenschaften geht, die schwer zu beobachten sind, liegt darin, dass andere Personen den Zustand der emotionalen Stabilität einfach nicht so lebhaft erfahren wie Sie selbst. Eigenschaften, die sehr leicht festzustellen sind, wie Extra- oder Introvertiertheit, sind sehr schnell und relativ simpel im Verhalten der Menschen zu sehen: Denken Sie daran, wie sich jemand bei einem Abendessen verhält oder wie das Verhalten bei einer Beschwerde aussieht. Alleine aus solchen kurzen Alltagsepisoden lassen sich viele Rückschlüsse auf die Persönlichkeit anderer ziehen.

Es gibt zwei besonderen Merkmale, bei denen andere Sie weit besser einschätzen können als Sie selbst: Intelligenz oder Kreativität sind Eigenschaften, bei denen sich die meisten viel positiver einschätzen, als es tatsächlich der Fall ist. Der Grund liegt auf der Hand: Wir alle wären gerne intelligent oder kreativ, es sind Eigenschaften, die immer und von jeden als positiv eingestuft werden. Viele versuchen sich selbst davon zu überzeugen, dass sie es sind. Bei Männern scheint dieses Muster – mag man dieser Studie Glauben schenken – sogar ausgeprägter zu sein als bei Frauen.

Intelligenz und Kreativität sind allerdings Dinge, die Sie zunächst beweisen müssen – es reicht nicht aus, nur zu behaupten Sie wären intelligent oder kreativ. Im Gegenteil, die wahren Genies wissen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, über ihre eigene Intelligenz oder Kreativität zu urteilen.

Ähnlich verhält es sich bei Voreingenommenheit. Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass sie unvoreingenommener als der Durchschnitt sind. Das Paradoxe an der Sache aber ist, dass man die eigene Voreingenommenheit gar nicht beurteilen kann, wenn es um einen selbst geht, da man ja diesbezüglich per se voreingenommen ist. Es sind vielmehr die Menschen, die meinen objektiv zu sein, die die meisten Vorurteile haben – einfach, weil sie selbst nicht erkennen, wie anfällig sie für Vorurteile sind.

Wenn es also um eine Eigenschaft geht, die leicht zu beobachten oder schwer zuzugeben ist, helfen Ihnen andere Menschen beim Erkennen Ihrer Selbst. Indem Sie Ihnen als Spiegel dienen und sagen, was sie wahrnehmen, können Sie am meisten über sich selbst lernen. Die besten Spiegel sind im Übrigen nicht Partner oder enge Freunde. Diese sind vielleicht besser über Sie und Ihre Eigenschaften informiert, allerdings haben diese Personen meisten einen besonderen Filter, der Sie positiver erscheinen lässt als Sie vielleicht sind. Schließlich haben sie Sie als Freund ausgewählt und hegen daher den Wunsch, Sie als möglichst positiv wahrzunehmen. Die Menschen, mit denen Sie eng zusammenarbeiten, haben allerdings ein begründetes Interesse daran, Sie als besser (oder zumindest als weniger schwierig) zu empfinden. Die Herausforderung besteht darin, dass sie Ihnen oft nicht gerne sagen, was Sie nicht hören wollen, aber eigentlich hören müssen.

Eine hilfreiche Methode, viel über sich zu erfahren, ist, wenn Sie Kollegen bitten, so etwas wie ein Benutzerhandbuch über Sie zu schreiben. Das Aufschreiben der verschiedenen Verhalten und Eigenschaften hilft dabei, dass Menschen besser verstehen, wie Sie das Beste und das Schlechteste aus Ihnen herausbringen. Dabei gilt: Je mehr verschiedene Sichtweisen desto besser. Aber Achtung, es kann schmerzhaft werden, wenn das Feedback ehrlich ist. Wenn alle fünf Ihrer Kollegen, die nachweislich sehr zuverlässig und extrem gut organisiert sind, unisono sagen, dass Sie es nicht sind, wird es schwer zu argumentieren, dass Sie Recht haben und alle anderen falsch liegen.

Vor zwei Jahrtausenden hatten die alten Griechen einige überzeugende Einsichten, denn sie wussten, dass uns Grundlegendes klar werden würde, wenn wir anfangen, mit uns selbst in Kontakt zu treten. Sie verstanden die Macht der menschlichen Erzählung und wussten, wie wichtig es ist, seinen Platz in der Welt zu finden. Wir alle können unsere eigene Welt erschaffen. Unsere Ideen, Emotionen und Vorstellungen sind nicht an unsere Gehirne und Körper gebunden. Wenn Sie etwas denken und entdecken können, können Sie es auch zum Leben erwecken. Aber dafür müssen Sie zuerst sich selbst kennen.